"Jedes Kind hat seinen Rucksack zu tragen"
Marie* ist acht Jahre alt und wohnt nicht bei ihren leiblichen Eltern. Als sie zwei Jahre alt war, ist sie in eine neue Familie gekommen, weil ihre leiblichen Eltern nicht mehr gut für sie sorgen konnten. Bereits seit sechs Jahren hat Marie nun also eine weitere Familie, ihre Pflegefamilie. Ihre Pflegeeltern sind Daniela und Eva Hacken aus Langerwehe. Die beiden sind schon lange ein Paar und der Kinderwunsch wurde im Laufe der Zeit immer größer. „Wir haben uns schon überlegt, wie wir unsere Zukunft gestalten, welche Optionen es gibt und ob es für uns infrage käme, ein Pflegekind aufzunehmen“, erzählt Eva Hacken. Bei einem unverbindlichen Infoabend vom Pflegekinderdienst haben sie sich dann über diese große Aufgabe weiter informiert. Damit kam der Stein ins Rollen, der ihr Leben in positiver Hinsicht verändern sollte. Ein Seminar half den beiden, die Herausforderungen und Anforderungen besser einschätzen zu können, ohne dass die Teilnahme direkt eine Zusage gewesen wäre, auch als Pflegeeltern aktiv zu werden. „Jedes Kind, das in eine Pflegefamilie kommt und nicht mehr in seinem ursprünglichen Zuhause sein kann, bringt einen Rucksack mit einer Vorgeschichte mit. Man muss sich dessen bewusst sein“, sagt Eva Hacken. Bei einem Ausflug drei Wochen nach dem Seminar haben die beiden Marie das erste Mal gesehen. „Der Blitz ist sofort eingeschlagen“, sagt sie.
Doch bevor es überhaupt zu einem Treffen zwischen den potenziell neuen Familienmitgliedern kommt, erhalten die Paare erste Informationen zu der Geschichte, dem „Rucksack“, den das Kind mit sich trägt. „Dann kann man entscheiden, ob man sich treffen möchte“, sagt Daniela Hacken „Man muss ein gutes Gefühl haben. Wenn das fehlt, ist es wichtig, so ein Treffen auch abzulehnen. Die Voraussetzungen müssen stimmen, sonst tut man sich und vor allem dem Kind keinen Gefallen.“ Bei Marie waren sich die beiden sicher, die Basis stimmte. Die erste Zeit im neuen Zuhause sei nicht einfach gewesen, es musste erst einmal das Vertrauen aufgebaut werden. Das kann lange dauern und ist bei jedem Kind, bei jeder Familie unterschiedlich. Hierbei seien vor allem Geduld und die Vermittlung von Sicherheit wichtig, sagen die beiden, damit eine Bindung entstehen kann.
Der Pflegekinderdienst ist immer unterstützend an der Seite
Die engmaschige Betreuung durch den Pflegekinderdienst des Kreises Düren ist eine wichtige Unterstützung. Der Pflegekinderdienst hat nicht nur ein offenes Ohr für die Sorgen der Eltern, sondern vermittelt Hilfsangebote, die den Eltern zustehen. „Die Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst des Kreises Düren läuft sehr gut. Es ist auch immer möglich, kurzfristig und schnell eine Rückmeldung zu bekommen.“
Der Pflegekinderdienst des Kreises Düren kümmert sich um die (zukünftigen) Eltern und berät Interessierte über die Anforderungen und Voraussetzungen, denn Pflegeeltern werden dringend gesucht. „Wir suchen Eltern für unsere kleinen Superhelden, die ihnen Liebe, Geborgenheit, Stabilität und Zuversicht geben können“, sagt Dorothee Pohlmann vom Pflegekinderdienst des Kreises Düren. Das Team des Pflegekinderdienstes überlegt im Vorfeld, welche Kinder gut zu welchen Eltern passen können, die Herkunftsfamilie wird in der Regel in diesen Prozess mit eingebunden. Die zukünftigen Pflegeeltern erhalten zunächst Schulungen, die sie auf die neue Rolle vorbereiten. Dann folgt die Kennenlernphase zwischen Kind und potenziell neuer Familie. „Pflegeeltern ersetzen oder ergänzen dabei die leiblichen Eltern, die Wurzeln spielen natürlich immer eine Rolle. Aber sie springen dann ein, wenn Kinder vorübergehend oder auch auf Dauer nicht in ihrer Herkunftsfamilie leben können.“ Die professionelle Begleitung und Beratung während der neuen Familienzeit ist selbstverständlich. Wie lange Kinder in den neuen Familien bleiben, ist sehr individuell. Manche Kinder bleiben bis zur Volljährigkeit bei einer Pflegefamilie. Auch der Kontakt zu der Herkunftsfamilie ist unterschiedlich geregelt.
Eltern als Lösungssucher
„Pflegeeltern geben den Kindern, die in den ersten Lebensjahren weniger Glück hatten, eine Chance auf eine glückliche Kindheit. Diese Aufgabe und Leistung ist von unschätzbarem Wert und eine Bereicherung für die Gesellschaft, auch wenn der Weg nicht immer einfach ist“, sagt Landrat Wolfgang Spelthahn.
Das Ehepaar Hacken erinnert sich noch gut an die Anfangszeit mit Marie. „Das erste Jahr hat uns schon eine Menge Kraft gekostet“, sagt Eva Hacken. „Es gab Wutanfälle, Geschrei und Frust. Marie hat uns natürlich auch getestet, wie weit sie gehen kann, und sich gleichzeitig auch so versichert, dass sie trotz ihrer Laune ein festes Zuhause hat.“ In Kombination mit der Trotzphase war diese Situation zu Beginn eine echte Herausforderung für die Eltern. „Wir haben jeden Abend den Tag gemeinsam aufgedröselt, besprochen und Ideen entwickelt, wie wir die Situation verbessern können. Als Eltern sind wir Lösungssucher.“
Dass die beiden eine pädagogische Ausbildung haben (Eva Hacken ist Fachlehrerin an einer Förderschule, Daniela Hacken leitet eine Kita in Langerwehe) hat ihnen zusätzlich geholfen, mit der neuen Situation umzugehen. Eine solche Ausbildung ist aber keine Voraussetzung, um ein Pflegekind aufzunehmen. „Wir haben vielleicht andere Ideen oder Erfahrungswerte, aber wichtig ist, dass man das Kind beobachtet und sich mit ihm beschäftigt und viel reflektiert,“ sagt Daniela Hacken. „Wichtig ist, dass beide Elternteile voll und ganz hinter dieser Entscheidung stehen.“
Kinder, die einen besonders schweren Rucksack aufgrund ihrer Erfahrungen zu tragen haben, sind allerdings nicht in jeder Pflegefamilie gut aufgehoben. Es bedarf bei manchen Kindern pädagogischen Fachwissens der Eltern bzw. des Elternteils, um auf die besonderen Bedürfnisse eingehen zu können. Daher sind diese Kinder am besten bei Pflegefamilien aufgehoben, bei denen mindestens ein Elternteil eine pädagogische Ausbildung absolviert hat. So kam es auch, dass Familie Hacken seit rund eineinhalb Jahren zu viert ist. Denn mit dem dreijährigen Ben* hat Marie einen Bruder bekommen. Ben hat sein ganz eigenes, schweres Päckchen zu tragen, denn er hat in seinem ersten Lebensjahr wenig Halt erfahren. „Ihm fällt es schwer, anzukommen, als sei sein Leben eine Bushaltestelle. Er ist sehr sensibel und reagiert auf diese Unsicherheit mit Brüllen und Wutausbrüchen“, erklären die Pflegemütter. Hier bedarf es pädagogischen Fachwissens, um die Kinder entsprechend zu leiten und auf sie und ihre Bedürfnisse eingehen zu können. Pflegefamilien mit pädagogischem Hintergrund heißen „Erziehungsstellen“.
„Diese haben ein fundiertes pädagogisches Wissen, um mit den Kindern umzugehen und so ein dauerhaftes Aufwachsen in einer Familie zu ermöglichen", erzählt Dorothee Pohlmann vom Pflegekinderdienst. Der positive Einfluss einer familiären Umgebung kann die Kinder auf die richtigen Bahnen leiten, bevor sie entgleisen.
Marie habe Ben aber den Weg geebnet, sagen die beiden Frauen. „Wir wussten ja in etwa, was auf uns zukommt. Wir waren ja schon im kalten Wasser und konnten schon schwimmen“, sagt Eva Hacken gelassen über den Entschluss, ein weiteres Pflegekind aufzunehmen. Dennoch war und ist es noch eine besondere Herausforderung, der Austausch mit anderen Eltern, die in der gleichen Situation sind, sei sehr wichtig und hilfreich. Auch bei Ben habe der Blitz sofort eingeschlagen, das „Kribbeln“, wie sie es nennen, war sofort da. „Die beiden Kinder passen sehr gut zusammen und sind ein spitzen Team.“ Strukturen und Rituale helfen, den Alltag zu gestalten. Lange Spaziergänge, so sagt das Ehepaar, helfen den beiden Kindern ihre Gefühle und Erlebnisse zu verarbeiten. Mittlerweile sei der Gedanke, die Kinder könnten wieder zurück zu ihren leiblichen Familien kommen, immer kleiner geworden. „In den ersten zwei Jahren ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass ein Kind wieder zurückgeht, aber mit der Zeit haben sie hier einen festen Platz. Man muss dann immer gucken, ob es wirklich das Beste wäre, wenn die Kinder nach so langer Zeit aus diesem festen Umfeld wieder herausgenommen werden.“ Auch, wenn das sonst recht normale Familienleben nicht immer einfach ist, Daniela und Eva Hacken möchten sich eine Zeit ohne ihre Kinder nicht mehr vorstellen. „Die Kinder geben uns so viel zurück. Wir sind eine richtige Familienbande mit allem, was dazu gehört. Das ist unheimlich schön, auch die positive Entwicklung der Kinder zu sehen“, sagt Daniela Hacken. Ihre Frau erinnert sich: „Ich weiß noch, als wir bei uns auf der Terrasse saßen und den Bogen für Pflegeelternbewerber ausgefüllt haben. Bei der Frage: ‚Was glauben Sie, wird sich für Sie ändern‘ habe ich mit einem Lächeln ‚alles‘ geschrieben. Noch nie hatte ein Wort, eine so große Bedeutung“, sagt Eva Hacken und lacht.
*Namen der Kinder wurden geändert